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VLB BLOG - Januar 2016

 

Theorie ist Silber, Praxis Gold

29. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

In der Theorie gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis schon. Der Theoretiker interessiert sich für abstrakte Begriffe und Argumente, gerne hält er sich dem Leben fern. Hinter jedem Gedankengebäude steckt jedoch ein Mensch. „Schade um die Tatsachen”, wird er sich vollständig vom Leben abschottend ausrufen, wenn seine Lebenserfahrung seiner Theorie widerspricht, oder aber eine biographische Wende nehmen.

„Die meisten, die Theorie treiben, fassen das eigene Leben mit spitzen Fingern an und tun sich mit dem Reden und Schreiben darüber schwer. Viele Theoretiker reden gern über die Welt, wie sie ist, oder über das, was der Fall ist, aber ungern über sich. Sie sind wortgewaltig und wortkarg zugleich. Sie sehen ihre Aufgabe darin, Allgemeingültiges zu sagen und Persönliches auszublenden. Sie spannen ein engmaschiges Begriffsnetz und ziehen sich aus ihm zurück wie eine Spinne, die im Versteck auf Beute lauert. Sie wollen sich nicht selbst in der Sprache verfangen, die Beute, die ihnen ins Netz gehen soll, ist die Welt. Diese Zurückhaltung ist von vielen Theoretikern des 20. Jahrhunderts aufgegeben worden. Sie bringen in dramatischer, manchmal geradezu obsessiver Weise ihr eigenes Leben zur Sprache, hadern mit sich und mit dem ‚Ich’, machen die Autobiographie zu einem großen Thema.”

München Hanser 2015

München Hanser 2015

 

Über die gegenseitige Erhellung von Theorie und Autobiographie und über die Schwellensituation von Leben und Schreiben: Der Einfall des Lebens : Theorie als geheime Autobiographie

Geschwächt aber gelassen

26. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

„Meiner schnell abnehmenden Sehkraft, dieser sich ausbreitenden Verdunkelung meiner Welt entspricht eine geistige Erblindung. Phänomene wie die augenscheinliche allgemeine Hilflosigkeit, die Resignation, die gerade noch im Zaum gehaltenen Panik-Reaktionen, umgeben mich wie schwarze konturlose Felsmassen in einer sternenlosen Nacht.”

Ihr spätes Debüt feierte sie im Alter von 80 Jahren. Jetzt schreibt sie die Chronik ihres Altwerdens, Vergehens, Hinübergehens. Geist und Körper verlieren Lebendigkeit. Das Jenseitige verschmilzt mit dem Alltäglichen, Momente der Klarheit vermischen sich mit Unklarheiten, Lebensfreude und Todesnähe stellen das Da-Sein in Frage. War es damals, vor einigen Tagen oder vor einem Jahr?

„Zwischen Mangelbewusstsein und Wohlsein, gibt es dieses Gefühl jenseits der Angst. Ohne Zeitmaß. Die völlige Bedeutungslosigkeit und Leere der Welt.”

Graz (u.a.) Literaturverl. Droschl 2015

Graz (u.a.) Literaturverl. Droschl 2015

 

Schmelzungen. Die Notizen der letzten zwei Jahre der jetzt 92-jährigen Ilse Helbich

Ode an… das Buch

22. Januar 2016 von Nina Floriani

 

Bibliotheken.
Bibliotheken sind doch eigentlich ganz logisch, besonders unsere.
Aufgestellt nach einer internen Systematik stehen Medien zum selben Thema zusammen, fachintern wird erst in Untergruppen, dann alphabetisch nach Verantwortlichkeit sortiert. Die unterschiedlichen Medien werden separat aufgestellt – außer es handelt sich um Medienkombinationen. In diesem Fall stehen plötzlich DVDs, CDs oder Karten in der normalen Aufstellung und nicht… nun ja, bei den CDs oder DVDs. Oh, und die meisten aktuellen Zeitschriften stehen im Lesesaal und nicht in den Stockwerken. Oder in der Cafeteria.
Manche Medien stehen auch in den Depots, die haben dann eine Depot-Signatur. Außer es sind Vorarlbergensien. Oder Zeitschriften. Oder…

Okay, zugegeben, vielleicht werden wir Bibliotheksmitarbeiter mit der Zeit ja doch einfach nur betriebsblind und es ist tatsächlich nicht so einfach, sich in unserer Bibliothek zurechtzufinden.
Ja, wir geben es zu. Nach fast 30 Jahren im Gallusstift geben wir auf und wagen es tatsächlich, unsere bisherigen Ansichten über den Haufen zu werfen:

 

Ja, für Außenstehende kann das System unserer Bibliothek vielleicht doch ein bisschen verwirrend sein.

Aus diesem Grund beschlossen wir, unseren werten Nutzern ein paar kleine Hilfestellungen zu den Bibliotheks-Basics zu geben.


Hilfestellung #1 – Ode an… das Buch.

Freude, schönes Bücherwerke,
Wissensbaustein aus Papier,
Wir betreten wissensdurstig
der Büchernarren Jagdrevier.
Deine Seiten flüstern leise
von noch unbekannten Fakten,
um zu füllen diese dreisten
Wissenslücken, die uns plagten.

Chor:
Seid umschlungen, Millionen!
Ja, wir übertreiben gern.
Eine halbe Mille Bücher
Sind der Million nicht fern.

Wer die Ehre hat errungen,
im Katalog daheim zu sein,
wem die Heldentat gelungen,
stimme in den Jubel ein!
Man gebe Thema, Titel ein
Oder Schlagwort, in der Tat,
Und findet aufbereitet fein
Ein Buch als Katalogisat!

Chor:
Was den Katalog bewohnet,
findet sich auch irgendwie!
Durch die vielen „Millionen”
gräbt man sich und findet sie!

Freude zeigt sich in den Wesen,
steht das Buch nicht im Depot.
Wär der Standort das gewesen,
wäre keiner von uns froh.
Ja, die Signatur ist wichtig,
man suche sie wie einen Schatz!
Doch ist das Stockwerk dann nicht richtig,
War das Ganze für die Katz.

Chor:
Oh euch herrlich „Millionen”
durchforsten Menschen jederzeit
Mitleid gar für alle jene,
die buchlos klagen uns ihr Leid.

Im Regale sind dann jene,
die sich grad im Haus befinden.
Diese zu suchen an den Orten,
Von denen die Signaturen künden.
Findet man jedoch dies nicht
Und liest ein Datum in Spalte vier,
so verfällt man leicht der Klage,
denn das Buch, es ist nicht hier!

Chor:
Ja, da sind die „Millionen”,
warten brav in Reih‘ und Glied,
warten nur auf eine Hand,
die sie aus Regalen zieht.

Entlehnbar sind die „Millionen”?
Möglich, steht’s bei <Ausleihbar>?
Präsenze sind’s, die bei uns wohnen,
im Hause verbleiben immerdar.
Der rote Punkt, der schlimme Wicht,
Zeigt es auch am Buche an,
betrachtet jedoch in anderem Licht,
so ist’s zumindest lesbar dann.

Chor:
Leset mutig Millionen,
eins um eins um eins um eins,
und stopfet eure Wissenslücken
Und saget bald zu Wissen: meins!

So ihr dann nun ein Buch gefunden,
um euch zu helfen in höchster Not,
haltet ein und wisset erst,
dies ist kein gekauftes Brot!
Nur vier mal sieben Tage bleibt
Dies Buch in euerem Besitz,
danach, solange nicht verlängert,
muss es zurück zu seinem Sitz.

Chor:
Buch, oh Buch, du holdes Ding,
erhelle unsren Geist erneut,
forme neue Kammern darin!
Leere zählt hier keinen Deut.

Freude sprudelt in euch über
Mit Büchern fest in euren Händen.
Doch haltet ein und hütet euch,
die Freude kann sehr bald schon enden.
Nur 40 Stück, kein Büchlein mehr,
soll‘n je bei euch zu finden sein.
Wir wissen schon, oft fällt es schwer,
Oh ihr Regeln, wie gemein!

Chor:
Oh du heitre Abschiedsstunde!
süßer Schlaf den Lesenden!
Aus der Bibliothekaren Munde:
Dank den Hiergewesenen!

© by Friedrich Schiller & VLB KG

Völkerwanderung

20. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

Bürgerkriege und internationale Konflikte sind nicht mehr medial abstrakt, mit den Flüchtlingen sind sie in Europa angekommen. Hunderttausende fliehen vor Tod, Gewalt und Not. Tausende Freiwillige engagieren sich, Tausende demonstrieren gegen Überfremdung und versuchen Flüchtlingsunterkünfte abzufackeln. Was ist die geeignete Flüchtlingspolitik oder Asylpolitik?

Die eine Wahrheit besteht darin, dass „die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge aus islamischen Ländern stammt. Diese Länder sind nicht nur islamisch geprägt, sondern diktatorisch geführt. Dort werden Menschen unterdrückt und Minderheiten diskriminiert und verfolgt. Wir müssen also davon ausgehen, dass viele der Flüchtlinge aus diesen Ländern keine realistische Vorstellung von Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und freiheitlicher Ordnung haben, von gesellschaftlicher Liberalität und Toleranz ganz zu schweigen.”

Zur anderen Wahrheit gehört, dass „der Westen eine erhebliche Mitverantwortung am heutigen Zustand der Lage im Nahen Osten hat. Die Zerstörung Syriens z. B., hat ältere Ursachen, älter sogar als die Kriege in Afghanistan und im Irak. Denn die künstlichen Staatsgrenzen in der Region, die westliche Mächte nach dem Ersten Weltkrieg zogen, wirken bis heute nach. Oder: In der islamischen Welt bleibt die Absetzung des demokratisch gewählten, iranischen Ministerpräsidenten durch einen Staatsstreich des CIA 1953 unvergessen.”

Schaffen wir das, oder schafft es uns?

Ins Offene. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge

Freiburg (u.a.) Herder 2015

Freiburg (u.a.) Herder 2015

Quantenphysik der Trauer

14. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

„Nach alle den Beweisen, dass die Geschichte der letzten vier Milliarden Jahre in der DNS der Lebewesen codiert ist, ist der Spruch, das Weltall ist eine Bibliothek, schon lange keine Metapher mehr. Jetzt werden wir eine neue Bildung brauchen. Es erwartet uns das große Lesen. Als Senor Jorge sagte, er stelle sich das Paradies wie eine Bibliothek ohne Anfang und Ende vor, dachte er höchstwahrscheinlich, ohne etwas zu ahnen, an die endlosen Regalbretter der Desoxyribonukleinsäure. Ich bin Bücher.”

„Hat sich jemand mit der Quantenphysik der Literatur beschäftigt? Wenn auch dort die Abwesenheit eines Beobachters alle möglichen Kombinationen voraussetzt, was für ein Karneval herrscht dann unter den Elementarteilchen des Romans? Was passiert wohl zwischen seinen Buchdeckeln, wenn niemand ihn liest? Das sind Fragen, über die nachzudenken sich lohnt.”

Physik der Schwermut. Roman von Georgi Gospodinov

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Minotauros

13. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

„Wollen wir hier auf die Seelen der zerstreuten Leser warten. Jemand könnte sich verlaufen haben in den Gängen dieser verschiedenen Zeiten. Sind alle aus dem Krieg zurückgekehrt? Und vom Jahrmarkt im Jahre 1925? Wir haben doch niemanden an der Mühle vergessen? Wohin sollen wir jetzt aufbrechen? Schriftsteller dürfen keine solchen Fragen stellen, aber als der zögerlichste und unsicherste unter ihnen werde ich es mir erlauben. Sollen wir zur Geschichte des Vaters abbiegen, oder sollen wir geradeaus gehen, was in diesem Fall zurück bedeutet, zum Minotauros der Kindheit … Ich kann keine lineare Erzählung anbieten, weil kein Labyrinth und keine Geschichte linear ist. Sind alle da? Wir brechen auf.”

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Bulgarisch

12. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

„Geboren bin ich Ende August 1913 als menschliches Wesen männlichen Geschlechts. Das genaue Datum kenne ich nicht. Sie haben einige Tage abgewartet, ob ich am Leben bleiben würde, erst dann haben sie mich registriert. So machte man das mit allen. Die Arbeit des Sommers ging zu Ende, man musste dies und jenes vom Feld holen, die Kuh kalbte, die Sorgen um sie. Der Erste Weltkrieg brach aus. Ich überstand ihn zusammen mit den übrigen Kinderkrankheiten, Windpocken, Röteln, usw.”

„Es geschieht unerwartet, so wie immer nach langem Warten, sie umarmen sich, atmen schwer, sprechen irgendwelche bruchstückhaften Wörter aus, leidenschaftliche, müde, Liebesworte, jeder in seiner eigenen Sprache. Er versteht nichts von ihrem merkwürdigen Ungarisch, sie versteht nichts von seinem merkwürdigen Bulgarisch. Danach tritt Stille ein, in der die beiden nebeneinander liegen. Erschöpfung und Glück bei ihr. Erschöpfung, Glück und eine unklare Unruhe (jedoch mit einem klaren Schuldgefühl) bei ihm. Er sagt ihr auf Bulgarisch, dass er eine Frau und einen Sohn hat, den er im Alter von kaum einer Woche zurücklassen musste. Einerseits will er sein Gewissen erleichtern, andererseits soll sie ihn nicht verstehen. Er weiß nicht, dass Frauen, wenn es darauf ankommt, etwas zu verstehen, was sie nicht verstehen sollen, einen anderen Sprachsinn entwickeln. Die Ungarin steht plötzlich auf und geht nach oben. Einige Tage lang sieht er ihre Augen nicht.”

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Idealgewicht

11. Januar 2016 von Wolfgang Köhle

 

Unterhalten sich zwei:
„Was hast du zu Weihnachten bekommen?”
„Einen großen, dicken Bauch”

Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ist das Lesen die einzige nachhaltige Methode, überschüssige Kilos loszuwerden und im persönlichen Idealgewicht zu verweilen. Aber Vorsicht: Erstrebenswerter als das Ideal- ist das Gleichgewicht, dessen Basis wiederum das Schwanken ist. Wer dem in unserer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten nicht gewachsen ist, findet Zuflucht in der Welt der unbegrenzten Phantasie. Was, wenn nicht Geschichten, können uns noch retten? Alles ist eine Frage der Phantasie, das ist die Wahrheit – so viel Zeit muss sein. Brechen wir also auf ins neue Lesejahr mit jemandem, der an großer Phantasie und an übergroßer Empathie leidet. Wer ist wohl dieser Schriftsteller, oder handelt es sich um eine Schriftstellerin? Brechen wir auf, sind alle da?

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

Ludwig Tieck, lesend (Scherenschnitt von Luise Duttenhofer)

 

„Es geschah oft gegen meinen Willen. Gleichsam dort, wo der andere Schmerz verspürte, in diesem Schnitt, dieser Wunde, an diesem Entzündungsort öffnete sich ein Gang, der mich nach innen saugte. In den Geschichten, besonders von Menschen, die mir nahestanden, gab es immer einen blinden Punkt, einen plötzlichen Spalt, eine Schwachstelle, eine unbegreifliche Traurigkeit, eine Sehnsucht nach etwas Verlorenem oder niemals Geschehenem, das mich hineinzog, in die dunklen Galerien des Verschwiegenen. In jeder Erzählung gab es solche geheimen Galerien und Gänge.”

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