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VLB BLOG - Juni 2016

 

Angstverkäufer

28. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Die „Normalisierung” nationalistischer, xenophober und rassistischer Rhetorik, von Jörg Haider salonfähig gemacht, ist keine europäische Randerscheinung mehr. (Selbst die USA sind sich nicht zu blöd dafür und halten Donald Trump für präsidiabel.) Normen und Tabus werden absichtlich verletzt, Ängste geschürt und die Politik der Ausgrenzung wird mit Vorurteilen, Verschwörungstheorien und Stereotypen populistisch unter das Volk gebracht. Aber sind nicht alle Politiker Populisten, suchen sie nicht auch nach Sündenböcken und verwenden ähnliche rhetorische Muster wie rechtspopulistische Politiker? „Rechtspopulismus bezieht sich vor allem nicht nur auf die Form der verwendeten Rhetorik, sondern immer zugleich auf spezifische Inhalte: Solche Parteien machen erfolgreich Angst – Angst vor verschiedenen realen oder fantasierten Gefahren. Sie bringen Sündenböcke ins Spiel, die unsere Gesellschaften und Nationalstaaten in Europa und darüber hinaus angeblich bedrohen und ihnen sogar schaden. Alle rechtspopulistischen Parteien instrumentalisieren eine Art von ethnischer, religiöser, sprachlicher, politischer Minderheit als Sündenbock für die meisten – wenn nicht alle – aktuellen Sorgen und Probleme. Sie stellen die jeweilige Gruppe als gefährlich dar, als Bedrohung.”

Wien (u.a.) Ed. Konturen 2016

Wien (u.a.) Ed. Konturen 2016

 

Angst ist ein gesundes Gefühl, bis es die Grenzen überschreitet. Die Grenzen des Humanismus. Die rechte Angstindustrie schürt Panik und lässt Hass gedeihen. Die irrationalen Ängste sind unbedingt ernst zu nehmen, sonst wird sich bald die Phobokratie, die Herrschaft der Angst, durchsetzen. Das Phänomen von Angsthändlern und Angstkäufern manifestiert sich in der Politik mit der Angst.

Das Runde muss ins Eckige

22. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Die gerade Linie ist kein Gedanke Gottes. Die Rechteckigkeit schon gar nicht. Aber der Mensch. Erfindet. Probleme. Er erfand nicht nur die Zirkulatur des Quadrats sondern auch die Quadratur des Kreises, also die Rektangulierung des Runden. Das Runde muss ins Eckige (Fußballmetapher), aber wie soll das Rechteckige ins Runde? „Es scheint zur Stabilisierung der neuen rektangulären Rationalität zu gehören, dass es eine Art förmlicher Feindschaft und figuraler Aversion gibt zwischen dem Feld mit rechteckiger Form und dem in sich gerundeten Runden. Innergeometrisch heißt das dann Inkommensurabilität. Das Runde erweist sich als ungefügig. Der Kreis ist notorisch widerspenstig. Hartnäckig sperrt er sich gegen das doch so vernünftige Bestreben, ihn ins Eckige zu transformieren. Wege ihres unberechenbaren Verhaltens wird π als irrationale Zahl bezeichnet und in die Ecke gestellt.”

Gott kann es uns allen keinesfalls recht machen. Das vorherrschende Primat der Ortho-Rationalität war jedenfalls kaum in seinem Masterplan enthalten. Ist die Formel wichtiger als die Form (und Zahlen wichtiger als Buchstaben)? Geradlinigkeits-Zwängler haben es nicht leicht. „Und wie empfindlich sind wir, wenn beim Ineinander rechteckiger Formen etwas nicht stimmt! Das klassische Beispiel ist das Bild, das ein klein wenig schief an der Wand hängt. Warum werden wir da so nervös, kribbelig, unwirsch? Wer oder was fordert da Begradigung – und mit welchem Recht?”

Berlin Suhrkamp 2016

Berlin Suhrkamp 2016

 

Eine außergewöhnlich faszinierende Reise durch die Genese der rektangulären Welt: Von der Bildfläche von Manfred Sommer.

Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück!

16. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Die einzige Frage, die zählt, ist: Was mache ich hier?
„Zweifel stiegen in mir auf. Was hatte ich im Dezember auf dieser Ural zu suchen, noch dazu mit zwei komischen Käuzen an Bord, wo diese teuflischen Maschinen doch dafür gemacht waren, an warmen Sommernachmittagen kleine, sechsundvierzig Kilo leichte Ukrainerinnen vom Strand in Jalta nach Simferopol zu befördern?”

Man sollte über eine gewisse Gelassenheit verfügen, um mit Motorrädern Russland zu durchqueren, um 200 Jahre nach dem Rückzug vom Russlandfeldzug die Route Napoleons und seiner Grande Armée nachzufahren. Die Ural ist langsam, Russland unendlich groß. Die Landschaft meist verkatert wie die Fahrer, die bei minus 17 Grad haarscharf vorbeifahrenden, Schneematsch spritzenden Lastwagen ausweichen. Helden oder Spinner?

„Wodka ist bedeutend wirksamer als die Hoffnung. Und viel weniger vulgär. Jetzt wurde angestoßen. Der Reihe nach stand jeder auf, hob sein Glas, sagte etwas, rief den Protest oder die Begeisterung der Tischgenossen hervor. Durch die Kunst, einen Toast auszubringen, kann man sich in Russland die Psychoanalyse ersparen. Wenn man in aller Öffentlichkeit auspacken kann, muss man keinen stummen Freudianer besuchen und sich bei ihm auf die Couch legen.”

München Knaus 2016

München Knaus 2016

 

Der Abenteurer Sylvain Tesson versteht es nach russischer Manier, die mangelnde Vorbereitung auf das Leben durch Gleichgültigkeit gegenüber unliebsamen Überraschungen zu kompensieren.
Zurückweichen? Niemals! Eine abenteuerliche Reise von Moskau nach Paris: Napoleon und ich.

Je suis baguette

10. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Man sollte ihn nicht so ernst nehmen wie möglich, sondern viel ernster: den Fußball. Denn beim Fußballspielen geht es nicht um Leben und Tod, es geht um mehr als das. Ist Spielen etwas anderes als das Experimentieren mit dem Zufall? Jetzt regiert er jedenfalls wieder, der König Zufall. „Manchmal kann man den Zufall auch zwingen. Das heutige Fußballverständnis scheint eher einen getanzten Fußball zu bevorzugen. So zeigt die Spielweise der spanischen Nationalmannschaft eine Strategie und Perfektion, die dem Ball seine zufallsgenerierende Kraft nehmen. Durch unablässige Kooperation des Teams auf engstem Raum wird der Ball mit sehr kurzen, flachen Pässen permanent hin und her gespielt. Mit dem Tiki-Taka wird dem Ball die Fähigkeit entzogen, Unvorhergesehenes zu bewirken. Dem Gegner wird jede Chance auf Balleroberung und damit auf Beteiligung am Spiel genommen. Die schwerelos wirkenden Stafetten und Kombinationen wirken wie von einem höheren Wesen choreographiert. Das Spiel verliert jedoch die offene Auseinandersetzung. Zufallsvernichtung kann auf lange Sicht das Interesse am Fußball mehr stören als der Zufall selbst.” So steht es in Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs.

München Pantheon 2016

München Pantheon 2016

 

Sieger glauben nicht an den großen Organisator Zufall. Trotzdem sei er gepriesen, denn er sorgt für Kontingenzerweiterung. Und ungerecht ist er auch nicht. Deshalb wird Österreich sicher nicht zufällig Europameister. Ebenso wenig zufällig wie wir schon einmal Fußball-Europameister waren. 1932 gewann unser Wunderteam den Europapokal, Vorläufer der Europameisterschaft der UEFA.

Brauchen wir Männer?

6. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Die Männer-sind-sexbesessen-und-Frauen-sind-prüde-Theorie ist interessant. Wirklich wissen wollen wir aber: Brauchen wir Männer? „Es gibt sogar Biologen, die den Mann als eine Art Parasit ansehen. Wenn man die Sache so betrachtet, sind Männer – die Körper, die um die Samenzellen drum herum gebaut sind – geschaffen worden, um von der Qualität der Frauen zu profitieren. Und dann versteht man auf einmal auch, warum einige weibliche Tiere es bevorzugen, ohne Männchen zu leben.”

Bei ungefähr 40 Tierarten wird das Männchen vor, während oder nach dem Sex aufgefressen. Auch die Drohnen der Honigbienen sind nur zur Begattungszeit geduldet, nur wenige sind auserkoren die Königin zu befruchten, worauf der Drohnenpenis in der königlichen Vagina abbricht und das Männchen tot vom Himmel fällt. Überzählige Drohnen werden im Herbst oder bei Futterknappheit in der Drohnenschlacht aus dem Stock vertrieben und verhungern. Aber die Welt war nicht immer schon schlecht, in der fröhlichen Urzeit gab es noch keinen Kampf der Geschlechter. „Einst in der Welt der Einzeller gab es keine Männchen oder Weibchen, keine Samen- und Eizellen, keine Penisse und Vaginas, keine Bärte und Brüste, keine tiefen und hohen Stimmen. Alle waren gleich; es gab keine Geschlechter. Jeder Organismus war neutral und steril. Der Geschlechtsverkehr war geschlechts-los.”

Köln Kiepenheuer u. Witsch 2016

Köln Kiepenheuer u. Witsch 2016

 

Brauchen wir also Männer? Die Autorin zieht den weiblichen, also richtigen Schluss: „Die Spülmaschine wäre dann immer richtig eingeräumt. Schön und gut – aber wer sagt dir dann, dass er dich liebt …”
Tierischer Sex.

Alles ist einerlei

3. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

Baum, Mensch, Reh, Stein - alles ist dasselbe, das Gleiche. Wir alle sind aus der Erde geboren, die Erde hat uns gesäugt, und dorthin müssen wir zurück. Wir tauchen plötzlich auf, werden mit jedem Augenblick mehr, und verschwinden plötzlich wieder. Alles versickert in der Erde. Aber das hat keine Bedeutung, denn alles ist einerlei. Liebe, Krieg, Tragödie - die Erde weiß alles, sieht alles, erzählt alles. Die Erde ist von allem durchdrungen. Die Erde lässt alles kalt, denn nichts hat Bedeutung, weil alles Werden ist und Vergehen.

„Ernst ist dreiundneunzig und lebt. Ernst weiß, dass nichts eine Bedeutung hat und alles wichtig ist. Ernst weiß, dass es das Leben gibt und dann nicht mehr. Ernst weiß, dass man im Leben nicht glücklich zu sein und nicht zu leiden braucht; das Einzige, was man muss, ist, dieses Leben zu leben, nichts weiter. Ernst wartet hoffnungsvoll und bereitwillig auf den Tod, ohne Verzweiflung und ohne Trauer darüber, was verloren ist, denn Ernst weiß, dass ihr Menschen niemals etwas habt, also könnt ihr auch nichts verlieren, doch das hat keine Bedeutung. Nichts hat Bedeutung.”

Drach, vom großartigen polnischen Autor Szczepan Twardoch, Autor von Morphin.

  • Berlin Rowohlt 2016

  • Berlin Rowohlt 2014

Natur-Defizit-Syndrom

1. Juni 2016 von Wolfgang Köhle

 

In der künstlichen Komfortzone herumlabern macht krank. Die Folgen des Zivilisationsprozesses sind tödliche Zivilisationskrankheiten. Wir brauchen die Herausforderungen der Natur, um gesund und zufrieden zu sein. Nur wer seiner Natur freien Lauf lässt, wer im Einklang mit der Natur lebt, nicht gegen sie, ist gesund. Vielleicht sollten wir einen Schritt zurücktreten von der überheblichen Spitze der Evolutionspyramide und wieder Jäger und Sammler werden, Wilde im besten Sinn des Wortes. Schließlich haben wir uns aus der Natur entwickelt und sind Teil davon. „Wenn wir diese tiefe Bindung an die Natur nicht beachten oder uns gar konträr dazu verhalten, werden wir das zu spüren bekommen. Eine der Hauptursachen für die Zivilisationsleiden in unserer hochtechnisierten und artifiziellen Welt liegt in einer weitgehenden Entkoppelung von der Natur. Dies ist eine der grundlegenden Störungen unserer Zivilisation. Das Phänomen hat einen Namen: Natur-Defizit-Syndrom.”

Wer sich seiner Natur entfremdet, ist oder wird krank. Wie wir unsere biologische Natur mit dem modernen Leben versöhnen, lernen wir in Zivilisationskrank. Natürlich gesund werden durch das Natürlichste der Welt: die Natur. Go wild, raus (aus dem Büro) in die Wildnis, hinein in das Ungezähmte…

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