NEUE SUCHEINDEXSUCHEEMPFEHLUNGENFACHGEBIETEFERNLEIHEHILFE
/

VLB BLOG - April 2017

 

Don't judge honey by looking at the bee

28. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

Honig ist – neben Bienenwachs, Bienengift, Propolis und Gelee Royal – ein besonderes Naturprodukt. Aber: der Stachel nicht weit vom Honig, also geht der Imker beim Öffnen eines Bienenstocks sehr sorgsam vor und gibt sowohl auf sich als auch auf die Bienen Acht. Das erfordert Achtsamkeit, Respekt und Zeit. Die Sammlerinnen eines Bienenvolkes besuchen täglich viele Millionen Blüten. Blütenhonig entsteht aus dem Nektar der Blütenpflanzen, den die Bienen im Austausch gegen die Bestäubung und Befruchtung erhalten. Nur etwa 50 Jahre haben wir Menschen benötigt, den seit 100 Millionen Jahren bestehenden natürlichen Kreislauf der Befruchtung zu zerstören. Dank Hybridsamen bringen Pflanzen überhaupt keinen Nektar und Pollen mehr hervor, Neonicotinoide und Pestizide wirken auf Bienen, Schmetterlinge, Regenwürmer, Vögel und Fische, sämtliche Mikroorganismen im Boden werden geschädigt. Eine absurde Auswirkung des Bienensterbens:

Stuttgart Ulmer [2017]

Stuttgart Ulmer [2017]

In chinesischen Obstplantagen müssen Blüten von Menschenhand bestäubt werden. Nepalesische Honigjäger dagegen ernten ihren Honig im Urwald, halsbrecherisch und ungeschützt auf 80 m langen Strickseilen. Mehr von dieser Goldader verraten uns Die Wege des Honigs.

 

By the way: Was Bienen mit Büchern gemeinsam haben, oh yeah, verrät uns der Bluesmusiker Bo Diddley mit seinem Hit You Can't Judge a Book By the Cover.

 

You can't judge an apple by looking at a tree

You can't judge honey by looking at the bee

You can't judge a daughter by looking at the mother

You can't judge a book by looking at the cover

Wer wir gewesen sein werden

25. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.”

 

Die Evolution vom Mängelwesen zur Mangelerscheinung ohne App führt uns über die totale Ablenkung zur Religion des Dataismus. Wir verlernen die Kunst des Verweilens und der Selbstversenkung, dafür strömen ungebetene Informationsfluten auf uns ein. Wer wir waren ist eine Zukunftsrede und das unvollendete, letzte Werk des vielseitigen Schriftstellers, sympathischen Denkers und vollendeten Redners Roger Willemsen.

 

„Neu ist vielleicht nicht der Mensch, der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau. Neu ist nicht einmal jener, der auf den Bildschirm interessierter blickt als auf die Welt und von ‚virtueller Welt’ spricht, damit sie der alt-analogen wenigstens noch semantisch gleiche. Neu ist eher jener Typus des ‚Second-Screen-Menschen’, dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildgeleiteteten Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar.”

Frankfurt am Main S. Fischer [2016]

Frankfurt am Main S. Fischer [2016]

Fortuna

19. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

Der eine schreibt mit Phantasie, der andere mit Verstand. Mit beidem arbeitet der originelle, gescheite, gerade 70 Jahre alt gewordene, freischaffende Denker, schwergewichtige und fernsehsüchtige Philosoph Franz Schuh. Gelegenheitspessimistisch formuliert er: „Der Mensch steht – aus der Perspektive der Ewigkeit betrachtet – wahrscheinlich im Mittelpunkt von nichts.” und fügt hinzu: „Vollkommen enttäuscht ist nur der Weise. Der Weise weiß, Schmerz und Trübsal machen das Leben aus, er negiert den Lebenswillen.” Einer seiner vorzüglichsten Lehrer, der Zufall, hat ihn auf folgende Erkenntnis gebracht: „Man kann, wenn man‘s kann, wissenschaftlich denken. Aber was man nicht kann, auch wenn man so denkt, ist einwandfrei wissenschaftlich leben.”

 

Beim Schreiben kommt es nicht nur darauf an, die Sprache zu beherrschen, sondern zugleich von der Sprache beherrscht zu werden. Alles, was er schreibt, kann man ungesehen lesen. Um zu erfahren, ob das auch auf die Autobiographie Fortuna. Aus dem Magazin des Glücks zutrifft, muss jeder selber lesen, lesen, lesen.

Wien Paul Zsolnay Verlag [2017]

Wien Paul Zsolnay Verlag [2017]

Der Denkschriftsteller jedenfalls räsoniert über die Summe seiner (Selbst)Täuschungen: „Hier erfährt also keiner, wie er glücklich wird – das muss ein jeder selber wissen, und wer`s nicht weiß, kann es eh vergessen.”

Karfreitag 2036

13. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

Wenn Andreas Maier im Jahr 2036 a: noch lebt, b: nicht inhaftiert ist und c: noch so gesund ist, dass er sich bewegen und gut sehen kann, wird er vermutlich in seiner eigentlichen Heimat, der Wetterau, wie jedes Jahr am Karfreitag morgens allein spazieren gehen. 

 

„Seitdem ich spazieren gehe, bin ich damit beschäftigt, mein eigenes Leben und die Welt um mich herum durchzukauen, ähnlich einem Wiederkäuer. Diese Welt, in der ich bin, war für mich stets weniger ein Genussangebot, eher eine Art von Aufgabe. Der liebe Gott schien mir immerfort zu sagen: Versuche, diese Welt zu verstehen! Versuche, dich zu verstehen! Versuche, mich zu verstehen! Und versuche zu verstehen, was richtig und was falsch ist! Dadurch ergab sich dieses Wiederkäuen, das letztlich auch all meine Literatur bestimmt hat. Und also werde ich auch am Karfreitag 2036 über mich, mein Leben und die Welt und all die Leben um mich herum wiederkäuend nachdenken. Ich werde zu dieser Zeit 68 Jahre alt sein und über eine ganze Menge nachzudenken haben. Der Gamander-Ehrenpreis wird mir dabei, wie jedes Jahr, eine Anleitung und ein Stichwortgeber sein. Ich habe ja schon immer zu denen gehört, die diese kleinen Wiesenblumen für das viel schönere Gebet an den lieben Gott halten als uns Menschen. Dass das Leben ein Gebet sein sollte. Das war für mich immer ein wohltuender Gedanke. Ich meine nicht: dass man viel beten solle im Leben. Nein, ich meine: dass das Leben, so wie es ist, einfach und fraglos ein Gebet sein sollte. Ich selbst bin in meinem Leben zwar eher selten ein Gebet, zumindest kein sonderlich großes. Aber ich kenne Menschen, die ein Gebet sind (es sind immer vergleichsweise einfache und klare Menschen), auch wenn sie eine Sozialversicherungsnummer haben und wie alle anderen Steuern zahlen müssen, also die Erbsünde der Zivilisation in sich tragen. Aber der liebe Gott hat ein weites Herz, so etwas wie völlige Linientreue dürfte ihn ankotzen. Er wusste stets, wie viel Übel wir Zivilisatorische in die Welt gebracht haben, aber der perfekte, korrekte und völlig wahrheitsüberzeugte, antihedonistische Mensch: Der war ihm der viel größere Graus. Und so geht der liebe Gott auch an jenem Karfreitag 2036 ein Stück des Weges mit mir auf meinem Karfreitagsgang, wie so oft.”

Nichts im Übermaß

10. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

Weil wir Menschen keine statischen, sondern im Werden begriffene Wesen sind, ist der Sokratische Imperativ „Erkenne dich selbst” ein unmöglich zu verwirklichender. Nichts ist, alles wird, alles fließt. Deshalb grenzt das Streben nach Selbsterkenntnis, wenn ihm nicht das rechte Maß, das Wissen um die Grenzen innewohnt, an Wahnsinn. Lebenskunst ist die Suche nach einem gelungenen Leben, ist Sorge für sich zu tragen. Die Sorge setzt die Verwirklichung bestimmter Tugenden voraus: „Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, Hartnäckigkeit in der Verfolgung eines Ziels, Mut beim Aussprechen der Wahrheit, Bescheidenheit und Einsicht in das, was man wirklich ist, Zurückhaltung bei allem Tun, denn es muss im Einklang stehen mit unseren Kräften und Fähigkeiten, Sensibilität im Umgang mit dem Spirituellen und vor allem die Weisheit, die darin besteht, immer das richtige Maß zu suchen, denn wo das richtige Maß fehlt, fehlt den Beeinträchtigungen des Lebens die Schranke. Die richtig verstandene Sorge für sich fällt ganz damit zusammen, dass für jede Tat und für jede spirituelle Praktik das rechte Maß gesucht wird, die Mitte, worin für Aristoteles das Wesen jeder Tugend liegt.”

Würzburg Königshausen und Neumann 2016

Würzburg Königshausen und Neumann 2016

 

Unruhe unterbrechen, Pause vom Gewöhnlichen machen, nach dem Guten streben, sich nicht ablenken (lassen):

So einfach ist Die Sorge um sich.

„Ich liebe die Ungebildeten” (©Donald Trump)

6. April 2017 von Dr. Gerhard Zechner

 

Diese Botschaft Donald Trumps im US-Vorwahlkampf in Nevada wurde in ihrer Bedeutung viel zu wenig kommentiert und ernst genommen. Denn sie zeigt in offenem Zynismus die politische Erwartung, Menschen mit geringerer formaler Bildung besser beeinflussen oder gar lenken zu können. Diese informieren sich kaum in für „elitär” gehaltenen journalistischen Qualitätsmedien oder Bibliotheken, tun sich schwerer in der Unterscheidung geprüfter Nachrichten und sogenannter „Fake News”, neuerdings als „alternative Fakten” verbrämt, und nehmen dafür unbelegte Dauer-Tweets und Postings unhinterfragt für bare Münze. „Wer nichts weiß, muss alles glauben”, sagte schon Marie von Ebner-Eschenbach, und es gibt ja tatsächlich auch noch Menschen, die den Klimawandel für eine reine Glaubensfrage halten. Menschen aus niedrigeren Bildungs- wie Einkommensschichten haben The Donald auch mehrheitlich zum 45. Präsidenten der USA gewählt und werden nun mit der radikalen Kürzung und Streichung sozialer staatlicher Förderung, Versicherung und Vorsorge sowie mit einem die Besserverdienenden noch stärker bevorzugenden Steuersystem „belohnt”.

Berlin Suhrkamp 2016

Berlin Suhrkamp 2016

 

Schlechte Ausbildung und geringes oder gar kein Einkommen, Bildungsarmut und ein sehr niedriger Sozialstatus mit tristen Zukunftsaussichten bedingen einander dynamisch. Ärmere Schichten sind durch größere Bildungsferne geprägt. Und die Schere sozialer Ungleichheit, strukturell bedingt durch zunehmenden Marktfundamentalismus bei gleichzeitigem Abbau des Sozialstaats, öffnet sich global weiter. Manche Autoren sprechen hier bereits von einer „Refeudalisierung”. Im Jahr 2016 häuften nach Berechnungen der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam nur mehr ganze acht Unternehmer so viel Besitz an, nämlich zusammen 426 Milliarden US-Dollar, dass sie über mehr Vermögen verfügen als die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Vor einem Jahr entsprach dieses Verhältnis noch den 62 reichsten Menschen. Laut „An Economy for the 99 Percent” besitzt also das reichste Prozent der Menschheit seit 2015 mehr als der gesamte Rest. Diese Entwicklung hänge, so Oxfam, eng mit den Möglichkeiten reicher Menschen und internationaler Konzerne zusammen, sich durch „aggressive Steuervermeidung” und Flucht in Steueroasen Vorteile auf Kosten des Allgemeinwohls zu verschaffen und Staaten in einen ruinösen Wettlauf „marktfreundlicher” Rahmenbedingungen zu treiben. Branko Milanovic differenziert die Ursachen und Folgen und zeigt in „Die ungleiche Welt”, dass zwar der Abstand zwischen armen und reichen Staaten geringer geworden ist, das Gefälle innerhalb einzelner Nationen jedoch dramatisch zugenommen hat. Ungleichheit ist damit „die entscheidende Herausforderung unserer Zeit” (Barack Obama) und die Beseitigung sozialer Ungleichheit ist die beste Strategie für mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit. „Schließlich hängt es von unserer Ausstattung mit Geld, Macht und Wissen ab, wie uns der Klimawandel trifft, wie sich unser Lebensalter vor, mit und vor allem nach der Erwerbsarbeit gestaltet und welchen Nutzen wir aus den Angeboten digitaler Lebensassistenz ziehen können” (Heinz Bude/Philipp Staab), womit auch die digitale Kluft der Mediennutzung angesprochen wird. Im Gegensatz zu den 1980er-Jahren gibt es auch bei Wachstum kein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft und Massenkonsum mehr. 

 

Jeder sechste Jugendliche in Österreich hat nach acht Jahren Schule Probleme beim Lesen einfacher Texte. Und eine neue IHS-Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Vorarlberg belegt, dass 6.000 VorarlbergerInnen der Altersgruppe der 15- und 24-Jährigen nur die Pflichtschule besucht haben. Wer nur die Pflichtschule besucht hat, wird leichter arbeitslos, der Lohn bleibt gering, die Kaufkraft klein, die Zukunft trist. Bildungsarmut führt auch in Vorarlberg zu schlechteren Lebensverhältnissen, bleibender Bildungsferne und letztendlich Altersarmut. Insgesamt sind laut AK die verfügbaren Nettoeinkommen der Arbeitnehmer seit Mitte der 1990er-Jahre trotz oder auch wegen enormer Erhöhung der Unternehmensgewinne nicht mehr gestiegen. 

 

Was hat dies nun alles mit der Vorarlberger Landesbibliothek zu tun? Sehr viel. Denn ob die thematische Analyse nunmehr von der Seite der Arbeitsmarktstrategien und politischen Interventionen zur Bildungsgerechtigkeit, oder aber der Hintergründe und Folgen sozialer Ungleichheit her in Angriff genommen wird, die VLB bietet dazu aktuelle und grundlegende Literatur quer durch die betroffenen Fächer sowohl zur Einführung als auch zur wissenschaftlichen Vertiefung. Wer sucht, der/die findet und schafft sich damit rechtzeitig ein Fundament an Wissen und größeren Lebenschancen gegen Demagogen und Glaubenskrieger aller Art:

 

Bildungs- und Chancengerechtigkeit

 

Bildungssoziologie

 

Bildungspolitik

 

Soziale Ungleichheit, Einkommens- und Vermögensverteilung

 

Politisches Verhalten

Böhmen liegt am Meer

3. April 2017 von Wolfgang Köhle

 

Ihre ruinöse Beziehung mit Max Frisch endet in einem beinah tödlichen physischen und psychischen Zusammenbruch. Ins Leben und Schreiben zurück fand Ingeborg Bachmann, indem sie sich auf eine Winterreise nach Prag begab. Ein Gedicht des Glücks ist das auf dieser Reise entstandene „Böhmen liegt am Meer”. Das Zugrundegehen versteht sich nicht als Untergang, sondern ein „Auf den Grund kommen”, als Begreifen des „Grunds der Dinge”.

 

Böhmen liegt am Meer

 

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.

Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.

Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.

 

Bin ich's nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.

 

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.

Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.

Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

 

Bin ich's, so ist's ein jeder, der ist soviel wie ich.

Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.

 

Zugrund – das heisst zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.

Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.

Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

 

Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe

unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,

und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

 

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,

wie ich mich irrte und Proben nie bestand,

doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

 

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags

ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

 

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,

ich grenz, wie wenig auch an alles immer mehr,

 

ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,

begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl

   zu sehen.

MünchenBerlinZürich Piper [2016]

MünchenBerlinZürich Piper [2016]

OK ✓

Diese Website verwendet Cookies. Durch die Nutzung dieser Webseite erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies gesetzt werden. Datenschutzhinweis