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VLB BLOG - Mai 2018

 

Unpersönliche Autobiographie

30. Mai 2018 von Wolfgang Köhle

Eine melancholische Art von Anti-Autobiographie schreibt Annie Ernaux in Die Jahre. Als Ethnologin ihrer selbst beschreibt sie selbstanalytisch distanziert ihre Epoche. Französische Nachkriegszeit, Algerienkrise, Universität, 1968, Mutterschaft, Ehescheidung:

„Die Liste des aufzuteilenden Hausrats besiegelte die Trennung. Sie zog einen Schlussstrich unter die gemeinsamen Wünsche und Sehnsüchte. Die Inventur war das Todesurteil der Beziehung. Als Nächstes wurde ein Anwalt hinzugezogen und die gemeinsame Geschichte in eine juristische Sprache übersetzt, die der Trennung jede Leidenschaft nahm und die anonyme Banalität der Auflösung des gemeinsamen Haushalts betonte.”

Es folgen die Jahre der sogenannten Emanzipation der Frau, die Globalisierung, das Altern:

„All das wird innerhalb einer Sekunde vergehen. Getilgt das von der Geburt bis zum Tod angesammelte Wörterbuch. Stille wird eintreten, und man wird keine Wörter mehr haben, um sie zu sagen. Aus dem offenen Mund wird nichts mehr kommen. Kein Ich, kein Mir, kein Mich. Die Sprache wird die Welt weiter in Worte fassen. Bei Familienfeiern wird man nur noch ein Vorname sein, von Jahr zu Jahr gesichtsloser, bis man in der anonymen Masse einer fernen Generation verschwindet.”

Berlin Suhrkamp Verlag 2017

Berlin Suhrkamp Verlag 2017

Alte Knochen – junges Herz

25. Mai 2018 von Wolfgang Köhle

„Dass ich nicht älter werde”, wünscht sich in der Alters-WG Sofia Binder, 92jährig. In der noblen Altersresidenz mit Champagnergläsern, Bergpanorama und Tafelspitz ist sich Walter Schmidt, 93, sicher: „Ich bin Anatom, ich weiß, der Tod ist unser bester Freund”. Herr Kronsteiner aus der Justizanstalt für Senioren hat noch was vor: „Ich hab nicht vor, hier zu sterben”. Für die Klosterschwester Veronika, 87, ist „die innere Freiheit […] so wichtig” und Frau Birnbaum, die mit 93 Jahren alleine zuhause lebt, glaubt, „tot sein ist schön”. „Nur kein Tamtam drum machen”, sagt Herr Hoffmann, 88, im Seniorenheim.

„Wer ein Rezept für ein langes, gesundes Leben sucht, wird nicht fündig werden. Denn: Es gibt keine Garantie für eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung. Allenfalls Faktoren, durch die sich die Wahrscheinlichkeit für ein langes Leben erhöhen oder verringern lässt. Gewiss ist nur: Am Ende steht der Tod. Bis dahin gilt es zu leben.”

Hochbetagt. Porträts über alte Menschen in Österreich.

Salzburg Verlag Anton Pustet [2017]

Salzburg Verlag Anton Pustet [2017]

Von nichts zu nichts. Ein Mann fürs ganz Grobe

18. Mai 2018 von Wolfgang Köhle

Krieg in der Warschauer Unterwelt der 1930er Jahre. Charismatische Gangster töten, werden getötet und leben in Gewalt, Exzess und Eleganz. Der jüdische Schönling und Boxer Jakub Shapiro arbeitet als brutaler Handlanger für seinen Gangsterboss, Erniedrigung und Misshandlung anderer bereiten ihm Vergnügen. Mehr davon, durchwoben von großartiger, Tarantinoesquer Poesie, ist zu lesen in Der Boxer.

„Zwei Kugeln trafen seine Brust, eine die Stirn. Und es gab Moryc Shapiro nicht mehr, und Moryc Shapiro wusste nicht einmal, was passiert war, das Letzte, was er spürte war Angst, und Angst ist kein Wissen, sie ist ein Reflex des Körpers. Und als es ihn nicht mehr gab, war es, als hätte es ihn nie gegeben. Es blieben diejenigen, die sich an ihn erinnerten, auch ich erinnere mich an ihn. Aber meine Erinnerung an Moryc, das bin ich, das ist nicht er. Es hatte ihn gegeben, aber er war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nichts war geblieben, nur Körper, und der Körper verschwindet ebenfalls schon bald, er begann zu verschwinden, sobald er gestorben war, denn der Körper ist nur die Ordnung der Materie, und diese Ordnung endet im Tod. Von nichts zu nichts.”

„Der einzige Klub, in dem ich Mitglied sein will, ist der Klub Szczepan Twardoch.”

Berlin Rowohlt 2018

Berlin Rowohlt 2018

Engelskreis

9. Mai 2018 von Wolfgang Köhle

„Verletzungen werden als absichtlich herbeigeführte Provokation des anderen interpretiert. Der direkte Kontakt wird vermieden. Wenn kommuniziert wird, dann über Dritte wie Personalvertretung oder Rechtsanwalt. Die Parteien versuchen, einander Schaden zuzufügen, und sei es unter Hinnahme eigener Nachteile. Ein Schaden, bei dem man selbst mit weniger Verlust herauskommt als die Gegenpartei, wird als Gewinn gewertet …”

Die Endstufe eines Konflikts, wenn Menschen sich Böswilligkeit unterstellen, ist Hass.
Im Teufelskreis bist du dir sicher: Er/Sie meint es nicht gut mit dir. Wir aber wollen im Engelskreis verweilen. Dort wissen, denken und fühlen wir, alles ist nur ein Missverständnis, er/sie meint es gut mit mir!  

Konfliktmoderation: Ein Leitfaden zur Konfliktklärung

Offenbach Gabal [2018]

Offenbach Gabal [2018]

Ich werde dich immer hübsch finden

4. Mai 2018 von Wolfgang Köhle

„Einer der großen Vorurteile der Verwahrlosung durch die Eltern äußert sich darin, dass sie die Kinder daran gewöhnt, sich für belanglos zu halten. Einmal erwachsen, werden sie sich diese Gewohnheit zu eigen gemacht haben und leicht handzuhaben sein, einfach zufriedenzustellen, wunschlos schon mit nichts. Umgekehrt wiederum werden diejenigen, die mit dem irrigen Gefühl großgeworden sind, sie wären was, die emotionalen Ansprüche ins Unendliche steigern, sich beim geringsten Verstoß empören, und keine Ruhe geben, bis sie Euch die Existenz versaut haben. Probiert es aus.”

Im Roman Ich komme von Emmanuelle Bayamack-Tam erzählen Mutter, Tochter und Adoptivtochter drei Versionen ihrer Wohlstandsverwahrlosung. In einer Welt voller Lieblosigkeit kann uns nur noch die Liebe retten. „Ich bin hässlich” denkt sich die Enkelin, doch „er schaut mich an, lange, seine Augen schweifen ohne Selbstgefälligkeit, das ich mit meinem zerzausten Haar und eingezwängt in meinen Badeanzug biete. Nach einer Weile, die mir unendlich scheint, streift er eine Strähne über meiner feuchten Stirn zur Seite und spricht mit einer Art inbrünstigem Ernst den Satz aus, der mir das Leben rettet: ‚Ich werde dich immer hübsch finden.’”

Zürich Secession Verlag für Literatur [2017]

Zürich Secession Verlag für Literatur [2017]

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